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«Wenn ich Karotten statt Rüebli hÖre, zieht es mir den Schuh ab»

Chris Winteler (Text) und Marco Zanoni (Fotos)

«Allgemein sind ganz hohe Stimmen weniger beliebt, tiefe Stimmen hingegen gelten als glaubwürdig und sexy»: Robert Schmid

Sprechtrainer Robert Schmid hat unzählige Radiostimmen mitgeprägt. Er weiss aus Erfahrung: Zu schnelles Tempo, zu geschliffenes Hochdeutsch kommt bei der Schweizer Hörerschaft schlecht an

Beliebte Audioformate wie Podcasts oder Clubhouse, technische Geräte, die immer häufiger auf Sprachbefehle reagieren: Für manche entwickelt sich das 21. Jahrhundert ganz im Zeichen des Hörens und Sprechens. Robert Schmid hat sich ein Leben lang intensiv mit Sprechern und Hörern beschäftigt, zuletzt als Sprechtrainer beim Schweizer Radio SRF. Ein Video- Interview, wie derzeit üblich, ist für ihn kein Thema. Ihm genüge die Stimme, ein Bild lenke ihn nur ab, sagt der Berner.

 

Achten Sie bei einem Menschen besonders auf die Stimme?

Ja, und ich mache gern ein Rätsel daraus: Wenn ich im Zug von Bern nach Zürich sitze und eine Stimme höre, stelle ich mir vor, was das für eine Person sein könnte. In Zürich angekommen, versuche ich jeweils zu klären, ob mein akustischer Eindruck mit dem Aussehen übereinstimmt.

 

Und, liegen Sie oft richtig?

Nein, Aussehen und Stimme passen meist nicht überein. Besonders bei den tiefen Männerstimmen stellt man sich gern einen grossen, kräftigen Mann vor. Diese Verbindung existiert nicht. Deshalb müssen Schauspieler, die einen Film synchronisieren, auch kein Foto, sondern ein Stimmbeispiel einschicken.

 

Die Aufmerksamkeit für die Stimme hat wohl auch einen psychologischen Aspekt?

Meine Erfahrung zeigt mir, dass die Arbeit an der Stimme auch immer Arbeit an der Person ist. Es geht um Haltung, Emotionen, um den Körper, den ganzen Menschen. Ein Satz, der mir besonders gefällt: «Redner sind ja nicht nur Kehlköpfe, sondern auch Köpfe.»

 

23 Jahre lang waren Sie beim Schweizer Radio und Fernsehen als Sprechtrainer tätig. Sie haben Einfluss auf viele Karrieren gehabt. Was war Ihre Hauptaufgabe?

Zuerst galt es, in den Castings herauszufinden, ob sich die Bewerber und Bewerberinnen für die Arbeit vor dem Mikrofon eignen. Dann wurden die Moderatoren und Moderatorinnen so geschult, dass sie in ihrer Sendung angemessen tönen – und dennoch ihre Persönlichkeit einbringen können.

 

Bei den Singstimmen wird in Castings immer nach der «besonderen», «unverwechselbaren » Stimme gesucht. Wie wichtig ist dieser Aspekt bei der Radiostimme?

Das Format spielt eine entscheidende Rolle: Wenn ich Nachrichten präsentiere, steht die Information an erster Stelle, das heisst, man muss mich auf Anhieb verstehen. Wenn ich eine Musiksendung auf SRF 3 moderiere, ist Persönlichkeit gefragt, da darf die Stimme auch ungeschliffen oder rau rüberkommen. Am grössten ist die Bandbreite beim Podcast, der von der stimmlichen Persönlichkeit des Hosts geprägt ist.

 

Was wird an unseren Radiostimmen am meisten kritisiert?

Was vor allem von der älteren Hörerschaft beanstandet wird, ist das Sprechtempo, viele finden, es werde zu schnell geredet. Auch wird die «Verluderung der Sprache» kritisiert, grammatikalische Fehler, zum Beispiel, dass der Genitiv nicht eingesetzt werde. Und als Verrat an der deutschen Sprache werden zu viele englische Ausdrücke gerügt.

 

Welche Stimmen haben es schwer?

Allgemein sind ganz hohe Stimmen weniger beliebt, tiefe Stimmen hingegen gelten als glaubwürdig, sexy. Untersuchungen zeigen aber, dass die lebendige Sprechmelodie entscheidender ist. Die vermittelt Engagement und Interesse.

 

Wird beim SRF untersucht, welche Dialekte beim Publikum am besten ankommen?

In den 80er-, 90er-Jahren gab es Dialekte, die nicht über den Sender gingen oder die wieder vom Mikrofon genommen wurden, weil es zu viele Reklamationen gab. Darunter der Walliser und der Freiburger Dialekt. Heute hat SRF in den Leitlinien die Vielfalt aufgeführt, und diese soll auch in den Dialekten hörbar sein. Das Beliebtheitsranking wird seit Jahren von den gleichen drei Dialekten angeführt: Walliser, Bündner und Berner – in abwechselnder Folge.

 

Wie war das, als Sie als ausgebildeter Schauspieler Nachrichtensprecher bei Radio SRF wurden? Haben Sie Ihrem Bühnendeutsch bewusst wieder eine etwas schweizerische Färbung antrainiert?
Wie hoch muss unser Hochdeutsch sein, wie schweizerisch darf es sein? Dieses Thema wird die Hörer immer beschäftigen, dementsprechend viele Beanstandungen gehen ein. Die einen wollen sofort erkennen, dass sie einen Schweizer Sender hören. Die anderen finden, es töne unprofessionell, zu dialektal. Ein moderates, nicht allzu geschliffenes Schweizerhochdeutsch ist das Ziel. Beispiel: Zwanzig oder Zwanzich? Die Hörer bevorzugen das G am Schluss.


LEHRER DER SPRECHERINNEN UND SPRECHER

Robert Schmid, 65, kam 1988 zum Schweizer Radio, erst als Nachrichtensprecher, dann als Sprechtrainer und Auftrittscoach. 23 Jahre lang brachte er Journalistinnen und Journalisten medientaugliches Sprechen bei. Schmid ist seit März pensioniert und bietet sein Sprechtraining «Stimmsachen» nun privat an. Er wohnt mit seiner Frau, der Moderatorin Beatrice Born, in Bern und ist Vater einer erwachsenen Tochter.


«Das Beliebtheitsranking wird seit Jahren von den gleichen drei Dialekten angeführt:

Walliser, Bündner und Berner – in abwechselnder Folge»

 

Auch über gendergerechte Sprache wird derzeit heiss diskutiert. Beispiel: Lehrer-Innen, Hörer-Innen. Wie halten Sie es damit?
Bereits in den 90er-Jahren war die geschlechtsneutrale Sprache ein Thema in der Chefredaktion. Heute diskutiert man über das «Päuseli », den sogenannten «Glottisschlag ». Eine elegante Lösung, wie ich finde. Es ist ein äusserst emotionales, politisch aufgeladenes Thema, ich staune, wie aggressiv darauf reagiert wird.

 

Warum verärgert dieses Päuseli so sehr?

Viele finden, es sei schlicht nicht nötig, eine Zwängerei. Oft sind es Männer, die dagegen schreiben.

 

Es hat bis Dezember 1970 gedauert, bis erstmals eine Frauenstimme, jene von Monique Furrer, die Nachrichten auf DRS 2 lesen durfte. Warum so lang?
Aus heutiger Sicht hats lange gedauert. Dabei war DRS im deutschsprachigen Raum ziemlich früh dran. In Schweden hingegen hat bereits 1937 eine Frau die Nachrichten gesprochen – das hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Damals wurde Glaubwürdigkeit und Kompetenz der männlichen Stimme zugeordnet. Monique Furrer hingegen hat kaum Reaktionen ausgelöst, die Zeit war reif.

 

Und doch gibt es Bereiche, ich denke ans Kommentieren von Fussballspielen, wo Frauenstimmen umstritten sind. Worauf müssen Frauen besonders achten?

1973 moderierte Carmen Thomas als erste Frau eine Sportsendung im deutschen Fernsehen, «Das aktuelle Sportstudio» im ZDF. Nach dem Versprecher «FC Schalke 05» war sie weg vom Sender. Es kann schon sein, dass Frauen kritischer gehört werden. Oft werden Emotionen über die Lautstärke transportiert, und diese Schreierei, ob von Männern oder Frauen, stört viele gewaltig. Emotionen kann man jedoch auch über die Sprechmelodie erzeugen – Ski-Kommentatorin Tina Weirather ist ein gutes Beispiel dafür.

 

Sie betonen den Einfluss der Sprache aufs Denken.

Sprachbilder beeinflussen unsere Wahrnehmung: Sage ich «Sozialhilfebezüger », löst das andere Bilder aus als «Sozialschmarotzer». Oder ein Beispiel aus der Werbung: Als der Zucker in Verruf kam, nannte man das «Süssgetränk» plötzlich «Erfrischungsgetränk».

 

Das Sprechen ist, ähnlich wie das Aussehen, der Mode unterworfen. Gibt es eine Art zu sprechen, die gerade im Trend ist?

In der Populärmusik fallen Billie Eilish und Cassandra Jenkins momentan besonders auf: Sie gehen ganz nah ans Mikrofon, atmen vernehmbar, als Hörer habe ich das Gefühl, sie reden direkt und nur zu mir. Die Leute hören immer häufiger mit Kopfhörer, man sucht Intimität und Nähe.

 

Kürzlich hat eine «Projektleiterin im Bereich Jugend» auf SRF 1 ein neues Social-Media-Angebot vorgestellt. Die Sprache der jungen Frau strotzte vor zeitgeistigem Vokabular, und fast jeder Satz begann mit einem «Hey!». Was wäre Ihre Reaktion?
Wenn jemand repetitiv etwas macht, spricht man von einem Sprechmuster. Wenn das Sprechmuster dermassen auffällt, lenkt es in der Regel ab, man achtet nur noch darauf – und es beginnt zu nerven. Deshalb ist es wichtig, dass die Leute am Mikrofon ihre eigenen Aufnahmen kritisch anhören.

 

Man staunt immer wieder, wie rasch sich ein neues Vokabular verbreitet, etwas die sehr deutschen Begriffe «so was von!» oder «echt jetzt?». Was halten Sie davon?

Ich begegne diesen Entwicklungen mit Neugier. Sprache lebt, sonst wärs eine tote Sprache. Nicht jede Veränderung muss ich gut finden oder mitmachen. Aber dagegenstemmen kann ich mich nicht.

 

Finden Sie, es gibt eine Altersgrenze für Wörter wie «chillen», «cool» oder «mega»?

Ein Arbeitskollege erzählte mir, dass er seinem Sohn sagte, er soll doch noch etwas «chillen». Dem Sohn wars enorm peinlich, er fand, «chillen» sei seine Sprache, nicht die des Vaters. Und kürzlich war ich an einer Sitzung von Auszubildenden, diese sagten ständig «mega- nice» oder «ultra-nice» – wenn ich das sagen würde, wärs höchst seltsam. Damals, als ich jung war, musste man «verjäst» aussehen, das versteht heute niemand mehr.

 

Was stört Sie betreffend Sprache am meisten, wenn sie Radio hören oder TV schauen?

Es gibt eine rhetorische Form, die ich nur in den Medien höre – und die mich nervt. Ein Beispiel aus der Fussball-Berichterstattung: «Der Auftakt, er macht durchaus Freude.» Eigentlich heisst es: «Der Auftakt macht durchaus Freude.» Ich sage es immer wieder: Redet lieber so, wie euch der Schnabel gewachsen ist.

 

Ich wundere mich immer wieder, wie schlecht deutsche Werbung auf Mundart übersetzt wird.

Ähnlich, wie wenn jemand eine Rede hält und dabei das auf Hochdeutsch geschriebene Manuskript eins zu eins auf Mundart übersetzt. Ein Beispiel: «Dä Autor, dä gläse hät.» Wir benützen ein wo: «Dä Autor, wo gläse hät.» In der Werbung ists extrem: «So schmöckt Zmorge» – das ist ein typischer Germanismus.

 

Ein Beispiel, das auffällt, ist das überall angehängte -ne in der Mehrzahl, man sagt zum Beispiel «Stimmprobene». Und besonders auf Regionalsendern hört man auch oft falsche Mehrzahlformen: Rösser, Autos, Grosis. Stört Sie das?

Bis zu einem gewissen Grad muss man damit leben, dass die Jüngeren so reden. Wenn ich aber Kartoffeln statt «Härdöpfel» oder Karotten statt «Rüebli» höre, zieht es mir den Schuh ab, da ist meine Schmerzgrenze erreicht.

 

Wenn ich «Anke» oder «Bölle» sage, werde ich allerdings oft nicht verstanden.

Bloss weil jemand diese Ausdrücke nicht versteht, müssen Sie sich doch nicht verbiegen! Soll man halt fragen! Ich finde, wir sollten die Mundart pflegen, es ist schade, wenn solche Wörter aussterben.

 

Welcher Stimme hören Sie besonders gern zu?

(lacht) Der Stimme meiner Frau. Während der Studentenzeit waren wir zusammen in einer Theatergruppe, sie stand auf der Bühne und sprach, das fand ich sofort attraktiv.

 

Welche Stimmen bleiben Ihnen unvergesslich?

In der Kindheit war es Heiner Gautschy, die Stimme aus Amerika. Ich hatte keine Vorstellung von den USA, aber das war für mich Amerika. Dann Hans O. Staub, er leitete mit heiserer Stimme die Sendung «Tatsachen und Meinungen», wo geraucht und getrunken wurde. Von älteren Leuten werde ich immer wieder gefragt, ob Staub mit dieser Stimme heute noch angestellt würde – wohl kaum.

 

Seit März sind Sie pensioniert und arbeiten nun selbstständig als Sprech- und Auftrittscoach. Worauf gilt es zu achten, damit man in der Onlinesitzung einen überzeugenden Auftritt hat?

Wichtig finde ich, dass man etwas in die Technik, in die Kamera, ins Mikrofon investiert. Dann soll man sich gut ins Bild rücken, am besten mit einer neutralen Wand als Hintergrund. Kürzlich nahm ich an einer Sitzung teil, bei der mindestens drei Teilnehmer vor einem 08/15-Palmenstrand sassen, das wirkt befremdlich und lenkt mich ab. Zur Vorbereitung gehört, sich zu überlegen, was man sagen will, und Stichworte aufzuschreiben.

 

Was tun, wenn man die Aufmerksamkeit der Kollegen verliert?

Wenn ich merke, jemand hört mir nicht zu: Einfach mal den Namen nennen, «du, Thomas, was ich sagen wollte…». Da muss man auch etwas mutig sein. Man soll sich nicht kleinmachen. Mit klar gesetzten Betonungen und entsprechender Gestik stärke ich meine Überzeugungskraft.

 

Mich irritieren die ausdruckslosen Gesichter in den Kacheln.

Worauf soll ich mich konzentrieren? Am besten, Sie wählen das Gesicht aus, das Ihnen zugewandt ist. Ein Gesicht hats immer, das einen anschaut. Das gilt auch vor Publikum, ich schaue jene an, die bei mir sind, die es interessiert, was ich sage. Die anderen bringen mich aus dem Tritt.

 

Ab sofort haben Sie mehr Zeit für Ihren «Männer-Literaturclub ». Sie lesen demnach viele Bücher – oder kaufen Sie auch Hörbücher?

Lieber, als zu kaufen, spreche ich Hörbücher ein. (lacht) Dort sind übrigens gerade auch die Pausen sehr wichtig. Am liebsten aber lese ich Bücher. Wir sind acht Männer, jener, der sein Buch vorstellt, bekocht die Runde – inzwischen werden drei Gänge erwartet. Ich habe zuletzt den Roman «Auf Erden sind wir kurz grandios» von Ocean Vuong gewählt – leider wars ein virtuelles Treffen, ohne Geköch.

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